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Goethe-Memorabilia
XC
Goethe zu Weihnachten? Ja, 1772, JWG an seinen Freund Johann Christian Kestner
Goethe verwandelt später den Freund
Kestner zum Albert im Werther:
http://www.goethezeitportal.de/fileadmin/Images/db/wiss/goethe/schnellkurs_goethe/k_3/titelblatt_werther.jpg
An Johann Christian Kestner
[Frankfurt, 25. December 1772.]
Cristtag früh. Es ist noch Nacht
lieber Kestner, ich binn aufgestanden um bey Lichte Morgens wieder zu
schreiben, das mir angenehme Erinnerungen voriger Zeiten zurückruft;
ich habe mir Coffee machen lassen den Festtag zu ehren und will euch
schreiben biss es Tag ist. Der Türner hat sein Lied schon geblasen
ich wachte darüber auf. Gelobet seyst du Jesu Christ. Ich hab diese
Zeit des Jahrs gar lieb, die Lieder die man singt; und die Kälte die
eingefallen ist macht mich vollends vergnügt. Ich habe gestern einen
herrlichen Tag gehabt, ich fürchtete für den heutigen, aber der ist
auch gut begonnen und da ist mirs fürs enden nicht Angst. Gestern
Nacht versprach ich schon meinen lieben zwey Schattengesichtern euch
zu schreiben, sie schweben um mein Bett wie Engel Gottes. Ich hatte
gleich bey meiner Ankunft Lottens Silhouette angesteckt, wie ich in
Darmstadt war stellen sie mein Bett herein und siehe Lottens Bild
steht zu Häupten das freute mich sehr, Lenchen hat jetzt die andre
Seite ich danck euch Kestner für das liebe Bild, es stimmt weit mehr
mit dem überein was ihr mir von ihr schriebt als alles was ich
imaginirt hatte; so ist es nichts mit uns die wir rathen phantasiren
und weissagen. Der Türmer hat sich wieder zu mir gekehrt, der
Nordwind bringt mir seine Melodie, als blies er vor meinem Fenster.
Gestern lieber Kestner war ich mit einigen guten Jungs auf dem Lande,
unsre Lustbarkeit war sehr laut, und Geschrey und Gelächter von
Anfang zu Ende. Das taugt sonst nichts für die kommende Stunde, doch
was können die heiligen Götter nicht wenden wenns Ihnen beliebt,
sie gaben mir einen frohen Abend, ich hatte keinen Wein getruncken,
mein Aug war ganz unbefangen über die Natur. Ein schöner Abend, als
wir zurückgingen es ward Nacht. Nun muss ich dir sagen das ist immer
eine Sympatie für meine seele wenn die Sonne lang hinunter ist und
die Nacht von Morgen herauf nach Nord und Süd umsich gegriffen hat,
und nur noch ein dämmernder Kreis vom abend heraufleuchtet. Seht
Kestner wo das Land flach ist ists das herrlichste Schauspiel, ich
habe jünger und wärmer Stunden lang so ihr zugesehn hinabdämmern
auf meinen Wandrungen. Auf der Brücke hielt ich still. Die düstre
Stadt zu beyden Seiten, der Still leuchtende Horizont, der
Widerschein im Fluß machte einen köstlichen Eindruck in meine Seele
den ich mit beyden Armen umfasste. Ich lief zu den Gerocks lies mir
Bleystifft geben und Papier, und zeichnete zu meiner grossen Freude,
das ganze Bild so dämmernd warm als es in meiner Seele stand. Sie
hatten alle Freude mit mir darüber empfanden alles was ich gemacht
hatte und da war ichs erst gewiss, ich bot ihnen an drum zu würfeln,
sie schlugens aus und wollen ich solls Mercken schicken. Nun hängst
hier an meiner Wand, und freut mich heute wie gestern. Wir hatten
einen schönen Abend zusammen wie Leute denen das Glück ein groses
geschenck gemacht hat, und ich schlief ein den heiligen im Himmel
danckend, dass sie uns Kinderfreude zum Crist bescheeren wollen. Als
ich über den Marckt ging und die vielen Lichter und Spielsachen sah
dacht ich an euch und meine Bubens wie ihr ihnen kommen würdet,
diesen Augenblick ein Himlischer Bote mit dem blauen Evangelio, und
wie aufgerollt sie das Buch erbauen werde. Hätt ich bey euch seyn
können ich hätte wollen so ein Fest Wachsstöcke illuminiren, dass
es in den kleinen Köpfen ein Widerschein der Herrlichkeit des
Himmels geglänzt hätte. Die Tohrschließer kommen vom Burgemeister,
und rasseln mit Schlüsseln. Das erste Grau des Tags kommt mir über
des Nachbaars Haus und die Glocken läuten einer Cristlichen Gemeinde
zusammen. Wohl ich bin erbaut hier oben auf meiner Stube, die ich
lang nicht so lieb hatte als ietzt. Sie ist mir den glücklichsten
Bildern ausgeziert die mir freundlichen guten Morgen sagen. Sieben
Köpfe nach Raphael, eingegeben vom lebendigen Geiste, einen davon
hab ich nachgezeichnet und binn zufrieden mit ob gleich nicht so
froh. Aber meine lieben Mädgen. Lotte ist auch da und Lenchen auch.
Sagen Sie Lenchen ich wünschte so sehnlich zu kommen und ihr die
Hände zu küssen als der Musier der so herzinnigliche Briefe
schreibt. Das ist gar ein armseliger Herre. Ich wollte meiner Tochter
ein Deckbette mit solchen Billetdous füttern und füllen, und sie
sollte so ruhig drunter schlafen wie ein Kind. Meine Schwester hat
herzlich gelacht, sie hat von ihrer Jugend her auch noch dergleichen.
Was ein mädgen ist von gutem Gefühl müssen dergleichen Sachen
zuwieder seyn wie ein stinckig Ey. Der Kamm ist vertauscht, nicht so
schön an Farb und Gestalt als der erste, hoffe doch brauchbaarer.
Lotte hat ein klein Köpfgen, aber es ist ein Köpfgen.
Der Tag kommt mit Macht, wenn das Glück
so schnell im avanziren ist, so machen wir balde Hochzeit. Noch eine
Seite muss ich schreiben so lang tuh ich als säh ichs Tageslicht
nicht.
Grüst mir Kielmannseg. Er soll mich
lieb behalten.
Der Scheiskerl in Giessen der sich um
uns bekümmert wie das Mütterlein im Evangelio um den verlohrnen
Groschen, und überal nach uns leuchtet und stöbert, dessen Nahme
keinen Brief verunzieren müßte in dem Lottens Nahme steht und
eurer. Der Kerl ärgert sich dass wir nicht nach ihm sehn, und sucht
und zu necken dass wir seyn gedencken. Er hat um meine Baukunst
geschrieben und gefragt so hastig, dass man ihm ansah das ist
gefunden Fressen für seinen Zahn. hat auch flugs in die Frankfurter
Zeitung eine Rezension gesudelt von der man mir erzält hat. Als ein
wahrer Esel frisst er die Disteln die um meinen Garten wachsen nagt
an der Hecke die ihn vor solchen Tieren verzäunt und schreit denn
sein Critisches I! a! ob er nicht etwa dem Herrn in seiner Laube
bedeuten möchte: ich binn auch da.
Nun Adieu, es ist hell Licht. Gott sey
bey euch, wie ich bey euch binn. Der Tag ist festlich angefangen.
Leider muß ich nun die schönen Stunden mit Rezensiren verderben ich
tuhs aber mit gutem Muth denn es ist fürs letzte Blat.
Lebt wohl und denkt an mich das
seltsame Mittelding zwischen dem reichen Mann und dem armen Lazarus.
Grüst mir die Lieben alle. Und lasst
von euch hören. J W G.
Post Scriptum:
Quelle:
Goethes Werke. Weimarer Ausgabe, IV.
Abteilung, Bd. 2, S. 13-52.
Permalink:
Text und
Kommentar aus: JWG: Briefe. Hamburger Ausgabe in 4 Bänden. Bd 1. S.
138-140.
Erläuterungen:
Vorab hatte JWG dem Kestner schon geschrieben, mit der
Datenangabe „Dezember 1772“.
*
Lenchen] Helene
Buff, geb. 1756, Lottes Schwester, die wahrscheinlich während
Goethes Wetzlar-Aufenthalt abwesend war. Vgl. Goethe Brief, der den
Glückwunsch zur Vermählung darstellt; als Höhepunkt Goethescher
literarischer Abbreviatur eigener Gefühle:
„An Johann Christian Kestner
[Frankfurt, zwischen 4. und 9. April 1773.]Gott seegn euch denn ihr habt mich überrascht. Auf den Charfreytag wollt ich heilig Grab machen und Lottens Sillhouette begraben. So hängt sie noch und soll denn auch hängen biss ich sterbe. Lebt wohl. Grüsst mir euern Engel und Lengen sie soll die zweyte Lotte werden, und es soll ihr eben so wohl gehen. Ich wandre in Wüsten da kein Wasser ist, meine Haare sind mir Schatten und mein Blut mein Brunnen. Und euer Schiff doch mit bunten flaggen und Jauchzen zuerst im Hafen freut mich. Ich gehe nicht in die Schweiz. Und unter und über Gottes Himmel binn ich euer Freund und Lottens.“ (Briefe. Bd. 1. S. 145)i]
– Wer diese religiös-biblische Inhärenz interpretatorisch nachvollziehen kann – von Himmel und Erde, Wüste und Schattenlosigkeit - mag gewappnet für alles Wertherische sein. Die Unterschiede zum alten, alttestamentarischen Wandern im Schutze des Herrn sind elementarii.
Türner]
DWB: „thürmer, türmer,
m. 1) mhd. und md. türner, turner, der thurmwächter (auf dem wacht-
oder gefängnisthurme), thurmbläser (...)“, mit Angabe der
Goethes-Zitates: „Göthe 8, 123 (der thürmer 42, 160, 397); der
türner hat sein lied schon geblasen, ich wachte drüber auf. br. 116
(2, 49); Goethe kannt auch Türmer.“
Gerock] Frankkfurter
Kaufmann, Nachbar Goethes
Köpfe nach Raphael]
Zwei von ihnen hatte Goethe für Lavaters „Physiognomische
Fragmente“ (1775-1778) besprochen.
Musier] Monsieur
(unbekannter Mensch)
Kielmannseg] Freiherr
von Kielmannsegg, Praktikant vom Wetzlarer Reichsskammergericht
Scheiskerl in Gießen]
Christian Heinrich Schmid (1746
– 1800), Kritiker, lehrte seit 1771 Beredsamkeit und Dichtkunst an
der Universität Gießen. Vgl., pardon: auf dieser Wiki-Seite wird
die Beziehung zu Goethe völlig verschwiegen. Genauere Angaben finden
wir bei von Wilpert. 1998. S. 950f.:
http://de.wikipedia.org/wiki/Christian_Heinrich_Schmid
im Evangelio] Lukas
15,8f.: „Vom
verlorenen Groschen“:
8 Oder
welches Weib ist, die zehn Groschen hat, so sie der einen verliert,
die nicht ein Licht anzünde und kehre das Haus und suche mit Fleiß,
bis daß sie ihn finde? 9 Und wenn sie ihn gefunden hat,
ruft sie ihre Freundinnen und Nachbarinnen und spricht: Freuet euch
mit mir; denn ich habe meinen Groschen gefunden, den ich verloren
hatte. 10 Also auch, sage ich euch, wird Freude sein vor
den Engeln Gottes über einen Sünder, der Buße tut. (Epheser
3.10)
fürs
letzte Blat] Die Anspielung bezieht sich auf zeitweilige
Publikationsvorhaben.
reichen Mann und dem
armen Lazarus] Lukas 16,19f.:
biblische Narrativa haben für JWG reale Präsenz; er hat in seinem
Frühwerk viele biblische Aussagen nicht nur präsentiert, sondern
präsentisch realisiert. Vgl. den letzten Brief des sterbenskranken
und -willigen Werther mit drei unterschiedlichen religiösen
Vergegenwärtigungen, die in der neurotischen Ich-Perspektive
begründet sind als Selbstaussage.
iVgl.
zur religiösen Metapher des „Wanderns“:
http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/goethe/prometheus_reinhardt.pdf
iihttp://de.wikipedia.org/wiki/Psalm_23#Der_Text_des_Psalm_23
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