Goethe-Memorabilien XXIII
Erwin Strittmatter:
(Tagebuchnotiz am 30. Dezember 1969)
Dichtung und Wissenschaft (erg.:Wahrheit)
Schopenhauer war eigentlich ein Dichter, man erkennt es an
seinem stilistischen Schwung, an der Kühnheit seiner Gedanken, an seiner Sicht
auf den Zusammenhang der Welt: Keine Ursache ohne Wirkung, keine Wirkung ohne
Ursache: Der Spatz, der seine Federn putzt, tut es nicht ohne Ursache, nicht
ohne Wirkung, nicht ohne einen wenn auch noch so kleinen Zusammenhang mit dem
Weltganzen.
Schopenhauer machte seinen Wert als Dichter durch das
philosophische System, das er uns hinstellte, fragwürdig. Dem wahren Dichtertum
sind philosophische Systeme unzuträglich.
Auch Nietzsche, der sich eine Zeitlang als Schüler
Schopenhauers sah, war vom Urtalent her ein Dichter. Große Dichtung kommt nie
ohne Philosophie aus, aber sehr wohl ohne philosophisches System. Jeder
Wissenschaftler sucht seine Erkenntnisse unter das Dach eines Systems zu
bringen. Während die Systeme der Wissenschaftler .aber veralten, blieben die
Wahrheiten, die die griechischen Tragödiendichter aus dem Leben kelterten,
gültig und gelten bis in unsere Zeit hinein.
Goethe war groß, weil er in der Wissenschaft nicht weniger
zu Hause war als manche seiner Zeitgenossen, die sich Wissenschaftler nannten,
und weil er trotzdem der Wissenschaft nicht gestattete, über sein Dichtertum zu
herrschen. Deshalb lebt er unter uns, während die Kronen, die den Wissenschaftlern
seiner Zeit aufgesetzt wurden, längst verrostet sind.
Tolstoi wäre nicht groß, wenn nur sein religiöses System, nicht
aber seine Romane und Erzählungen auf uns gekommen wären. Er war sein Leben
lang als Dichter gefährdet. Es lag beständig ein System auf Lauer, seine Größe
als Dichter zu verschlingen.
Thoreau, von dem ich nur ein Buch kenne, hielt sein Dichtertum
hoch, obwohl er alle ihm zu Gebote stehenden wissenschaftlichen Erkenntnisse
beim Schreiben verwandte; aber er verwandte sie so, daß sie die Poesie nicht
erstickten.
Ich rechne Emerson zu dieser Art von standhaften Dichtern.
Auch ihm diente die Wissenschaft, das Primat des Künstlers zu beweisen. Ihn
nicht als Dichter gelten zu lassen, weil er nur Essays schrieb, erscheint mir
so unsinnig, wie wenn man einem Manne, der nur Romane schrieb, das Dichtertum
absprechen würde.
Walt Whitman nahm in seinen "Grashalmen" bald einen
wissenschaftlichen, bald den Standpunkt des Dichters ein. Er zeigt die Welt
hier wissenschaftlich analysiert, dort in synthetisierender Zusammenschau und legt
schließlich doch das Gramm, das zum Überwiegen gehört, auf die Waagschale des
Dichters.
*
Als Text zuerst vorgestellt in
EStr.: Wahre Geschichten aller Ard(t). Aus Tagebüchern. 1982. S. 206f. – ESt.s
Kenntnisse der Wissenschaften sind beschränkt. Er könnte z.B. den
Weltall-Erklärer, der die Gravitationslehre begründete, kennen: Isaac Newton.
Goethe betrachtete ihn als Erbfeind, den er mit seiner Lehre vom Licht
niederringen wollte. Ächte Waldorfianer wissen es noch heute 'besser' und laden ihr Wissen und ihre ZU-, pardon: Zukunftskunde gerne & ergiebig in Deutsch-und Kunststunden über ver- und gesammelte Schüler ab.
Vgl. die geordneten Erkenntnise zu diesem Thema in der Wikipedia.
Die Aussagen von
Denkern über Goethe und die Naturwissenschaften hängen davon ab, was der jeweils
„Erkennende“ aus dem großen Feld der Naturwissenschaften intus und an Begriffen
verfügbar hat, ob anthroposophisch, ob astrologisch, ob astrophysikalisch.
ESt.s Ausführungen können
so „l´art pour l´art" als wackere Eigenerkenntnis in der Tagebuchnotiz
am 30. Dezember 1969 gelten. Dass damals Dichter und Denker wie Emerson und
Thoreau in der DDR öffentlich goutierbar waren, hing von den Interessen und
Selbstverständnis ab, die DDR-Autoren eigenständig und eigenverantwortlich mobilisieren mussten.- Wie & woher EStr. 1969 seine Weis-, pardon: Studien begrüdnen konnte, ist wohl in Lehrbüchern der polytechnischen Unterrichtsstunden des EOS zu eruieren.
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