Mittwoch, 24. September 2014

Erwin Strittmatter: Großmutter und die Sperlinge



Goethe-Memorabilie XXII


 

Strittmatter, Erwin: Großmutter und die Sperlinge

Ob Gott, ob Goethe, ob Evangelisches Gesangbuch – hier gedeiht kleiner Leute Leben:



In Strittmatters Erzählbänden sind seine aus dem kontextuellen Zusammenhang der Tagebücher gelösten Kurzprosawerke erschienen. Ob es dort um Gott, Goethe oder Gesangbüchern, Herr und Hund, „Bienkopp“ oder Toni Schwabe oder Bertolt Brecht geht, die Prosa ist in einigen Beispielen im herben Sinn realistisch (teils im sozialistischen Realsimus), volksnah, herzhaft und recht & einmalig in deutschen Literaturlandschaften. Wenn ich Vergleichsnamen aus den damals wesent-westlichen, industriellen Triften, der Liteatur der BRD, nennen sollte, fielen mir Wolfdietrich Schnurre, Hans Bender und Heinrich Böll ein, aber nicht die etlicher modisch-intellektueller Text-Profess- oder Operatoren.

Diese primär hervorgehobenen Naturbeschreibung, einer wahr-realen Kurzgeschichte handelt nach dem Geschmack und Provenienz des Bloggers, eines von den Anfängen her niederländischen, mittlerweile gereiften Mannes, der Hochdeutsch in den Klassen der Volksschule (um 1958 in einer niederrheinischen Volksschule in Goch, Kreis Kleve), der sich Literatur von Gott und der Welt, von Land und Leuten, Plattdeutsch und verwandten Landstrichen herausgesucht hat, die ihm wohlzeit seines Lebens verbindlich bleiben (werden).

Von Tiegeln, von der "keuk" und den vom Herfeuer gewärmten Küken, von der Küche und den gemeinsamen, kargen Mahlzeiten einer zehnköpfigen Landarbeiterfamilien weiß er (AStRey) zu berichten -und in Texten zu vergleichen suchen...

Strittmatters Erzählung gilt ihm als ein exemplum vitae, auch wenn die Echtzeit und die Sozialisation des Geschehens lange, wohl mehr als ein Jahrhundert, vorbei zu sein scheint.  [Ich hätte solches gerne von meiner Mutter über ihre Elrern - aufgewachsen im Maastrichter Land/NL - erzählen gehört. Die Religiosität der Erzählfigur Großmutter hätte wohl nicht so gebildet pietätvoll geklungen...]

Ich werde andere, existenzielle Kurzprosa moderner Autoren nach 1945, vergleichbar diesem Beispiel, in absehbarer Zukunft hier anbieten, damit mensch sich an sie erInnern kann ...

10. Dezember 1969 [Datum des Eintrags in den „Tagebüchern“ der Jahre 1954 - 1973]

Erwin Strittmatter: 
Großmutter und die Sperlinge



Wenn es herbstelte und nebelte, schüttelte sich Großmutter: Ach, mir graut schon vorn Winter.

Bist du krank, Großmutter?

Krank nich, aber das verfluchte Sperlingsgeruppe.

An einem Sonnabend kurz vor Weihnachten war Großvaters Spatzenfangtag. Er kroch mit der Stall-Lampe auf den Heuboden und beklopfte und hinterstochte die Dachsparren und Dachbalken, und Spatzen flogen auf und flogen gegen seine Stall-Laterne, und wir Jungen mußten sie greifen und in einen weißen Leinewandsack stecken.

Von Zeit zu Zeit befühlte Großvater den Sack, und schließlich sagte er: Genung, der Tiegel is vull.

Beim Töten der Spatzen durften wir nicht zusehen. Großvater besorgte es in seiner Baukammer. Dann und wann prallte ein Spatz gegen das Baukammerfenster, und Großvaters Hand mit dem dicken Daumen erschien, um den Vogel wieder zu greifen. Manchmal aber flog der Spatz doch davon, und wir hörten Großvater fluchen: Der Deibel soll sich dir broaten!

Sodann begann, wovor es Großmutter schon im Herbst graute - das große Sperlingsrupfen. Wir Kinder hätten gern dabei geholfen, aber Großmutter war eigensinnig.

Wir rupften die Spatzen nicht richtig. Sollte sie sich vom Großvater sagen lassen: Kleene Igel freß ich nich.

Großmutter zog das Kirchengesangbuch aus dem Kommodenfach, gab es uns hin und sagte: Singt mir was!

Wir sangen: Die Ernt ist nun zu Ende ... oder Ach wie flüchtig, ach wie nichtig ist der Menschen Leben!

Wie ein Nebel bald entstehet und auch wieder bald vergehet, so ist unser Leben, sehet!

Während wir sangen, flogen Spatzenfederchen, zart wie Libellenfliegen, durch die Großelternstube. Ob man seine Mütze aufs alte Segeltuchsofa warf, oder ob man sein Halstuch vom Kleiderrechen nahm, nichts ließ sich ausführen ohne das Getümmel eines Spatzenfederschwarmes. Es war, als ob jedes Federchen mit dem Charakter der aufdringlichen Hofvögel ausgestattet wäre.


Wenn die Spatzen in ihrem Tiegel im Bratröhr aufkreischten, sagte Großvater: Seid stille, ihr hoabt eich bei uns gemästet!

Großmutter zog den Tiegel aus dem Röhr und überprüfte die Gare der gebratenen Spatzen. Die Spatzenleiber lagen auf dem Rücken im Tiegel, die Schenkelchen, wie Hilfe heischend, in die blaue Bratluft gereckt. Ach, ach! sagte die Großmutter und hielt sich die Augen zu.

Denn mußte dir ooch bei Schweineschinken die Oogen zuhalten, tadelte Großvater sie.

Großmutter tat, als wären ihr Spatzenfederchen in die Augen geflogen, und sie sagte: Schweinsborsten fliegen dir ja ooch nich in die Oogen.

Wenn später der Tiegel auf dem Tisch stand und wir uns mit Großvater zum Spatzenessen niedersetzten, verschwand Großmutter. Wo willste hin, Alte? fragte der Großvater.

Schnell die Ziege melken!

Der Inhalt des Tiegels ging zu Ende, und Großvater zwinkerte uns zu: Die Ziege muß ja heite mächtig Milch hoaben.


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In: Erwin Strittmatter: Wahre Geschichten aller Ard(t). Berlin 1982. S. 203ff. - Die Geschichte steht nicht - wie andere erzählerische Besonderheiten - in dem 2012 veröffentlichten Tagebüchern der Jahre 1956 bis 1973: „Nachrichten aus meinem Leben“. Berlin 2012: atb 2014. -


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Ergänzungen und Worterläuterungen zum Text:



„Tiegel“: Wie schön sich Sprache erschließt, von der urtümlich in der Handhabung der Menschen erzählt wird, ist dieser „Tiegel“ aus Großmutters „Keuk“ (nd.), „Küche“ (hd.), wie er auch vor 1900 aussah, real und realistisch er-fass-bar.
 Vgl. Pfeifers Etymologie: " Tiegel m. ‘flaches Gefäß zum Erhitzen und Schmelzen’, landschaftlich (omd.) ‘Pfanne mit Stiel’, (südd.) ‘(flacher) Topf’, ahd. tegel (um 1000)(...)"
http://dwds.de/?qu=Tiegel

„Geruppe“: Wer mag , kann sich die Weißheiten germanistischer Lautverschiebungen, hier von „pp“ zu „pf“, mit ihren sprachgeschichtlichen Erkenntnissen anlesen.

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Erläuterungen zu den anzitierten Kirchenliedern evangelischer Provenienz:
Wie lange diese Lieder aus dem „Evangelischen Gesangbuch“ abgelesen werden mussten, um eine Angleichung menschlich-irdischer und religiös-ideeller Stimmungen zu vermitteln. Solche Funktionen betenden und gebeteten Lebens sind schon immer relevant gewesen, aber immer wieder versucht worden, um eine Gott-Gestimmtheit zu vermitteln, die aber für Arbeitende, Arme nur eine materielle Schinderei war: Armseligkeit, die zuweilen durch Herzhaftigkeit und familiäre und leib-liebende Nähe erfüllend war!
 
Text: „Die Ernt ist nun zu Ende“: (Aus: Ev. Gesangbuch 505)

Gottfried Tollmann, 1725 (1680-1766)

1. Die Ernt ist nun zu Ende,
der Segen eingebracht,
woraus Gott alle Stände
satt, reich und fröhlich macht.
Der treue Gott lebt noch,
man kann es deutlich merken
an so viel Liebeswerken,
drum preisen wir ihn hoch.

2. Wir rühmen seine Güte,
die uns das Feld bestellt
und oft ohn unsre Bitte
getan, was uns gefällt;
die immer noch geschont,
ob wir gleich gottlos leben,
die Fried und Ruh gegeben,
daß jeder sicher wohnt.

3. Zwar manchen schönen Segen
hat böses Tun verderbt,
den wir auf guten Wegen
sonst hätten noch ererbt;
doch hat Gott mehr getan
aus unverdienter Güte,
als Mund, Herz und Gemüte
nach Würden rühmen kann.

4. O allerliebster Vater,
du hast viel Dank verdient;
du mildester Berater
machst, daß uns Segen grünt.
Wohlan, dich loben wir
für abgewandten Schaden,
fur viel und große Gnaden;
Herr Gott, wir danken dir.

5. Zum Danken kommt das Bitten:
du wollest, treuer Gott,
vor Feuer uns behüten
und aller andern Not.
Regier die Obrigkeit,
erhalte deine Gaben,
daß wir uns damit laben,
gib friedevolle Zeit.

6. Kommt unser Lebensende,
so nimm du unsern Geist
in deine Vaterhände,
da er der Ruh genießt,
da ihm kein Leid bewußt;
so ernten wir mit Freuden
nach ausgestandnem Leiden
die Garben voller Lust.

7. Gib, daß zu dir uns lenket,
was du zum Unterhalt
des Leibes hast geschenket,
daß wir dich mannigfalt
in deinen Gaben sehn,
mit Herzen, Mund und Leben
dir Dank und Ehre geben.
O laß es doch geschehn!

(Es existieren offensichtlich unterschiedliche Fassungen dieses Kirchenliedes.)

*
Zugabe: In der neuesten Auflag des „Evangelischen Gesangbuchs“ folgt auf dieses Erntedank-Lied ein
Text von Eva Strittmatter, noch ein Liedchen bzw. Gebet?

Brot

Man muss sein Brot mit gar nichts essen.
Mit nichts als Licht und Luft bestreut.

Gefühle, die man ganz vergessen,
Geschmack und Duft der Kinderzeit,
Sie sind im trocknen Brot beschlossen,
Wenn man es unterm Himmel isst.

Doch wird die Weisheit nur genossen,
Wenn man den Hunger nicht vergisst.


(In Evangelisches Gesangbuch. O. J.  S. 887)


* ~ *
Ach wie flüchtig, ach wie nichtig. (um 1650)

1.
     Ach wie flüchtig,
Ach wie nichtig
Ist der Menschen Leben!
     Wie ein NEBEL bald entstehet
Und auch wieder bald vergehet,
So ist unser LEBEN, sehet!

2.
     Ach wie nichtig,
Ach wie flüchtig
Sind der Menschen Tage!
     Wie ein Strohm beginnt zu rinnen
Und mit lauffen nicht helt innen,
So fährt unsre Zeit von hinnen!

3.
     Ach wie flüchtig,
Ach wie nichtig
Ist der Menschen Freüde!
     Wie sich wechseln Stund und zeiten,
Licht und Dunckel, Fried und streiten,
So sind unsre Fröligkeiten !

4.
     Ach wie nichtig,
Ach wie flüchtig
Ist der Menschen Schöne!
     Wie ein Blümlein bald vergehet,
Wenn ein rauhes Lüfftlein wehet,
So ist unsre Schöne, sehet!

5.
     Ach wie flüchtig,
Ach wie nichtig
Ist der Menschen Stärcke!
     Der sich wie ein Löw erwiesen,
Überworffen mit den Riesen,
Den wirfft eine kleine Drüsen!

6.
     Ach wie nichtig,
Ach wie flüchtig
Ist der Menschen Glücke!
     Wie sich eine Kugel drehet,
Die bald da, bald dorten stehet,
So ist unser Glücke, sehet!

7.
     Ach wie flüchtig,
Ach wie nichtig
Ist der Menschen Ehre!
     Über den, dem man hat müssen
Heüt die Hände höflich küssen,
Geht man morgen gar mit Füssen!

8.
     Ach wie nichtig,
Ach wie flüchtig
ist der Menschen Wissen!
     Der das Wort kunt prächtig führen
Und vernünfftig diskurrien,
Muß bald alle Witz verlieren!

9.
     Ach wie flüchtig,
Ach wie nichtig
Ist der Menschen Tichten!
     Der, so Kunst hat lieb gewonnen
Und manch schönes Werck ersonnen,
Wird zu letzt vom Todt erronnen !

10.
     Ach wie nichtig,
Ach wie flüchtig
Sind der Menschen Schätze!
     Es kan Gluht und Fluth entstehen,
Dadurch, eh wir uns versehen,
Alles muß zu trümmern gehen!

11.
     Ach wie flüchtig,
Ach wie nichtig
Ist der Menschen Herrschen!
     Der durch Macht ist hoch gestiegen,
Muß zu letzt aus unvermügen
In dem Grab erniedrigt ligen!

12.
     Ach wie nichtig,
Ach wie flüchtig
Ist der Menschen Prangen!
     Der im Purpur hoch vermessen
Ist als wie ein Gott gesessen,
Dessen wird im Todt vergessen!

13.
     Ach wie flüchtig,
Ach wie nichtig
Sind der Menschen Sachen!
     Alles, alles, was wir sehen,
Das muß fallen und vergehen:
Wer GOtt fürcht, wird ewig stehen!
*
Nach anderer Anordnung geht die Strophe 8 so:

Vgl. Die Fassung in Wikisource:
*

Vor- und Nachgedachtes:

Strittmatters urige, volkstümliche, herzerwärmende Geschichte ist sprachlich und von den erzählerischen, sowie personalen und sachlichen Aspekten her ein Urbild einer Familiesituation, wo die Ehe und Familie als Lebensgemeinschaft in eiskalten und wenig komfortablen Zeiten sich zu behaupten wussten: durch "Bauernschläue", Gottergebenheit, Humor und Selbstbehauptung als Finesse und Offenheit zu Partner und Kindern.

Nachklang:
Und warum „Goethe“ hier zu nennen war? Strittmatter war Goethe-Leser, ohne Goethianer oder Goethe-Philologe zu sein: Hierzu ein Tagebuchtext (aus den Jahren 1966/67):
„In Weimar: Vergangenheit ist alt gewordene Gegenwart.“ (ST. In: Ermunterungen“. 1981. S. 44)

Und poeteologisch-intentional, geradezu archaisch, dass dem Leser Respekt vermittelt wird ob des Einfachen, des Urigen, des Volkstümlichen (das kein '-tümelndes' ist

„Das Fenster ist ein zivilisiertes Loch, der Stuhl ein zivilisierter Stein und der Schrank ist eine zivilisierte Vertiefung im Gefels. Der Teller ist die Nachbildung der Hand, die Schüssel eine Nachbildung zweier aneinandergehaltener Hände, und auch die Gabel ist eine stilisierte Hand mit gespreizten Fingern. – Es macht mir zuweilen Spaß, die Urform der Dinge zu ergründen, ohne die zu befragen, die von Berufs wegen drüber Bescheid wissen.“ - (Aus: EStr.s „Ermunterungen" 1981. S. 60f.)

Nicht nur die Wortbildung „Gefels“, auch den Sinn dieser wörtlichen Urtümlichkeiten kann der Leser sich er-worten. Vorfahren, Großeltern, Dichter sprechen zu mir, wenn ich ST. lese. Wer lässt sich einladen?

Die Erinnerung an eine niederdeutsche, von Armut und Einfachheit geprägte Winterszenerie ist ein Wintergemälde – ein erzähltes:

Hiervon wollte ich berichten in der Goethe-Memorabilie XXII

Hier mehr über Goethe, Weimarisches und Strittmatter


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